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Danke, Willi!

Wilhelm Josef Waibel wurde im März 1934 in Singen geboren, sein Vater arbeitete bei der Maggi. Das Elternhaus war katholisch, der junge Willi wurde – wie es damals üblich war – Messdiener in seiner Gemeinde Sankt Josef. Und trat der Hitler-Jugend bei, die durchaus eine Faszination auf ihn ausübte. Die Begeisterung des jungen Willi, der noch die Grundschule besuchte, ging so weit, dass er gerne zur SS in Radolfzell gegangen wäre. Als der brutale Krieg, der bereits 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnen hatte, dann auch an Weihnachten 1944 nach Singen kam, änderte sich seine Haltung. Im Dezember fielen Bomben ganz in der Nähe der heutigen Bahnunterführung bei der Musikinsel, es gab Tote und fürchterliche Zerstörungen. Fortan schwänzte Willi die Gruppenstunden bei der Hitlerjugend. Die grausamen Bilder von damals erschüttern Wilhelm Waibel zutiefst, in den letzten Jahren hat er oft als Zeitzeuge über den Bombenangriff berichtet. Er zeigte, dass Krieg sinnlos und zerstörerisch ist und besonders Kinder, die Krieg erfahren müssen, für ihr Leben davon geprägt sind. In seinen Teenagerjahren wurde Willi Waibel von der katholischen Kirche geprägt, als Messdiener begleitete er Pfarrer Härtenstein von St. Josef in das Kriegsgefangenenlager, das sich auf der Theresienwiese befand. Im Lager an der Fittingstrasse erlebte er das Elend der deutschen Kriegsgefangenen und die humane Haltung des französischen Kommandanten Jean le Pan de Ligny. Wilhelm Waibel war bei der Einweihung der „Gefangenenkapelle“ am 9. November 1947 mit dabei und hat sich für ihren Erhalt über ein halbes Jahrhundert lang eingesetzt. Der junge Willi hatte auch die Zwangsarbeiterlager in Singen während des Krieges erlebt und begann dann als junger Mann mit der Suche nach Spuren der sogenannten vergessenen „Ostarbeiter“, die in der Zeit des Kalten Krieges hinter den Eisernen Vorhang in den Osten Europas, in die Sowjetunion, führte. Der Kommunismus galt im Ost-West Konflikt als klares Feindbild, auch in Singen vorhandene kommunistische Strömungen wurden von Pfarrer Härtenstein in der Gemeinde St. Josef heftig beschimpft und bekämpft. Über viele Jahrzehnte suchte Wilhelm Waibel nach den Zwangsarbeitern, die in der Singener Industrie beschäftigt waren. Erst kurz vor der Auflösung der Sowjetunion konnte er dank der Hilfe eines ukrainischen Journalisten im August 1989 Aufrufe in dortigen Zeitungen veröffentlichten. Willi Waibel handelte aus einer menschlichen Haltung heraus, aus einem inneren Bedürfnis, den Menschen zu sagen, wo ihre Angehörigen gestorben oder auch geboren worden waren. Denn die bundesrepublikanische Gesellschaft hatte weitgehend über den massenhaften Einsatz von Zwangsarbeitern in der Landwirtschaft und Industrie geschwiegen, man wollte sich an dieses Unrecht nicht erinnern. Aus einem inneren Drang heraus fuhr Willi Waibel dann nach Kobeljaki in die Zentralukraine, wo auf seine Initiative Anfang der 1990er Jahre eine Versammlung ehemaliger Zwangsarbeiter stattfand.Wir alle wissen, wie unangenehm es ist, in ein Land zu fahren, in dem man die Sprache nicht kennt, sich fremd fühlt. Wir alle kennen das beschämende Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Und wir alle wissen, wie schwer es ist, vor fremden Menschen auf der Bühne zu stehen und zu reden, dabei aber von einer schweigenden Masse kritisch angeschaut zu werden. Dieser Situation setzte sich Wilhelm Waibel freiwillig aus. Er stand vor über 200 ehemaligen Zwangsarbeitern, die unter der NS-Diktatur entrechtet und misshandelt worden waren. Hier begegneten sich ehemalige Feinde, das Misstrauen im ukrainischen Publikum dem fremden Deutschen gegenüber war damals mit Händen greifbar. Wilhelm Waibel nahm seinen ganzen Mut zusammen, um diese Situation durchzustehen. Der Mann aus Singen entschuldigte sich für das Unrecht, dass diesen Menschen widerfahren war. Und zeigte damit ein hohes Mass an bürgerschaftlichem Engagement, dass dann auch zur sogenannten Entschädigungsdebatte ehemaliger Zwangsarbeiter in Europa führte. Er traf zahlreiche Frauen und Männer, die nach Singen und in den Hegau verschleppt worden waren. Er sammelte viele Lebensgeschichten und verfasste dann ein grundlegendes Buch mit dem Titel: Schatten am Hohentwiel. Vor einigen Jahren liess er dann seine reichen Erfahrungen in eine Erzählung einfliessen, die auf wahren Begebenheiten beruht: „Warte auf mich, Babuschka“.Bis zu seinem Tod am Samstag, den 9. März 2024 in Singen, setzte sich Wilhelm Waibel für Frieden und Versöhnung ein. In einem Interview vom Januar 2014 sagte er:

„Versöhnung und Frieden kann nicht auf Befehl erfolgen, sondern muss zwischen Menschen wachsen.“

Willi Waibel war ein wertschätzender, freundlicher, genauer, kritischer, motivierter und engagierter Mitbürger. Im November 2022 konnte er die neu gestalteten „Russengräber“ auf dem Singener Waldfriedhof würdevoll einweihen, für deren Erhalt und Bedeutung er sich viele Jahre eingesetzt hatte. Bis kurz vor seinem Tod besuchte er regelmässig die Kapelle, schrieb Briefe, wenn er Handlungsbedarf sah oder Ungerechtigkeiten aufgespürt hatte.

Willi Waibel hatte massgeblich den Förderverein Theresienkapelle im Jahr 2006 aus der Taufe gehoben und war ein sehr aktives Ehrenmitglied. Als Zeitzeuge absolvierte er viele Führungen und beeindruckte mit seinem Erzähltalent und seiner akribischen Geschichtsarbeit junge und ältere Besucherinnen und Besucher.

Er wird fehlen. Es war ein Geschenk, ihn erleben zu dürfen. Möge er nun in Frieden ruhen.

Danke, Willi! Ade, Willi.

Singen, den 10. März 2024

Für den Förderverein Carmen Scheide